schöner Stil: Europäischer Gleichklang um 1400

schöner Stil: Europäischer Gleichklang um 1400
schöner Stil: Europäischer Gleichklang um 1400
 
Gegen Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts führten die vielfältigen Verflechtungen zwischen den Höfen Europas und den mit ihnen konkurrierenden Kreisen von Auftraggebern in der europäischen Kunst zu einem außergewöhnlich einheitlichen Stilbild, das vom Streben nach einer kostbaren, überfeinerten Formgebung, ja einer oftmals ins Märchenhafte gesteigerten Prachtentfaltung gekennzeichnet ist. Angesichts dieser allgemein verbreiteten erlesenen Formensprache haben sich inzwischen die Bezeichnungen »schöner Stil« oder »internationaler Stil« zur Charakterisierung dieser Epoche durchgesetzt.
 
Den bedeutendsten Aufschwung nahmen die Künste im Frankreich Karls V., der in Paris eine Reihe großer Bauvorhaben (zum Beispiel des Schlosses von Vincennes vor den Toren der Hauptstadt) in Gang setzte und aufgrund seiner bibliophilen Interessen insbesondere die Buchmalerei förderte, die in Frankreich auf eine große Tradition aus hochgotischer Zeit zurückgreifen konnte. Als nicht minder einflussreiche Kunstmäzene traten Karls Brüder Ludwig, Herzog von Anjou, Philipp der Kühne, Herzog von Burgund und Johann, Herzog von Berry, hervor.
 
Deren immense Förderung der Buchkunst und Miniaturmalerei ist noch heute an einer Vielzahl von Prachthandschriften zu erkennen. In ihnen gelangten zunehmend Wirklichkeitserfahrungen, variationsreich dargestellt, zur Anschauung. Bezeichnend dafür sind einige Stundenbücher - Bücher mit Gebeten zu den verschiedenen Tageszeiten -, die hochrangige Personen für sich zum privaten Gebrauch anfertigen ließen: die »Heures du Maréchal de Boucicaut« (um 1410) oder die »Grandes Heures de Rohan« (um 1410/15). Zu den Höhepunkten der Buchmalerei des frühen 15. Jahrhunderts zählen auch die für den Herzog von Berry bestimmten »Très Riches Heures«, deren Illustrationen von den aus den Niederlanden stammenden, in Paris ansässigen Brüdern von Limburg gemalt wurden. Die Monatsdarstellungen dieses Manuskripts verbinden jeweils charakteristische Tätigkeiten in freier Landschaft mit Ansichten der berühmtesten Schlossbauten jener Zeit, die im Hintergrund aufragen. Zugleich weist das hier zu verzeichnende neuartige Interesse an der Natur unmittelbar auf die altniederländische Malerei, auf Jan van Eyck und den Meister von Flémalle.
 
Zu den für Karl V. tätigen Bildhauern gehörten auch zwei Künstler, die - wie die Brüder von Limburg und ihr Onkel Jean Malouel - aus den Niederlanden stammten: Jean de Liège und André Beauneveu. Beide arbeiteten vorwiegend in erlesenen Werkstoffen wie Marmor und Alabaster und griffen oftmals auf traditionelle Typenbildungen zurück, verliehen ihren Gestalten jedoch durch die Wiedergabe stofflicher Qualitäten eine höchst individuelle Erscheinungsweise.
 
Prag als weiteres höfisch bestimmtes Kunstzentrum der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts erlebte eine Blüte als Residenzstadt Kaiser Karls IV., der zugleich als böhmischer König aus der Dynastie der Luxemburger regierte. Infolge der Berührung und des Austausches mit Italien und Frankreich - Karl selbst war am Pariser Königshof erzogen worden - entwickelte sich eine hoch stehende Kunst mit weiter Ausstrahlung. Der damals in Angriff genommene Neubau des Prager Veitsdoms unter dem Architekten Matthias von Arras spiegelt in seiner Konzeption Ideen der französischen Gotik wider. Unter der Leitung seines Nachfolgers, des 1356 berufenen Peter Parler, wurde das untere Triforium des Prager Domchors mit einer Folge von Brustbildern ausgestattet, in denen die Herrscherfamilie, die Würdenträger der Kirche Böhmens sowie die Architekten und Bauleiter der Kathedrale wiedergegeben sind. Die dem Mittelalter bis dahin unbekannte Gattung der Porträtbüste wird hier erstmals greifbar. Die Verbindungen der weit verzweigten Familie der Parler, deren Mitglieder an zahlreichen Kirchenbauprojekten des Heiligen Römischen Reichs wirkten (so in Köln, Schwäbisch Gmünd, Freiburg im Breisgau, Basel, Wien und Ulm), trugen zu einer Verbreitung nicht nur von Bauformen und Hüttengut, sondern auch zu einer bestimmten bildhauerischen Stilsprache bei.
 
Prag war gleichfalls der Ursprungsort einer für diese Epoche besonders signifikanten Typenprägung - der »schönen Madonnen«, in großer Zahl in feinem Kalkstein ausgeführt. Ihre Formenschönheit, die vor allem im schönlinigen Faltenwurf der Stilauffassung jener Zeit in besonderem Maße entsprach, war dazu angetan, ein Idealbild Mariens zu vermitteln, eine Vorstellung ihrer über das Irdische hinausweisenden Vollkommenheit. Das Spektrum der Typisierung reicht dabei von der in sich geschlossener konzipierten, sogar mit Peter Parler selbst in Verbindung gebrachten Madonna der Johanneskirche in Thorn (um 1380/90) bis hin zur »Krumauer Madonna« (um 1400). Von nicht geringerer Bedeutung als Neuschöpfung war die gleichzeitig mit den »schönen Madonnen« - sozusagen als deren inhaltliche Ergänzung - aufgekommene böhmische Version des Vesperbildes, das die Gottesmutter mit dem über ihren Schoß gebetteten Leichnam ihres Sohnes zeigt; Hauptbeispiele befinden sich in Sankt Ignaz in Iglau und in der Elisabethkirche in Breslau.
 
Trotz der großen Verluste durch die Bilderzerstörungen der Hussiten kann man auch heute noch den einst hohen Rang der Prager Tafelmalerei erkennen. Auf den von der Malerei in Siena und Avignon beeinflussten Meister von Hohenfurth folgte Theoderich von Prag, mit dessen Werk - darunter die Halbfigurenbilder in der Heiligkreuzkapelle auf Burg Karlstein - in den 1360er-Jahren der »schöne Stil« böhmischer Prägung ausgebildet wurde. Im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts war der Meister von Wittingau der in Prag führende Maler. Die Vorrangstellung der böhmischen Malerei wird vor allem in ihrer Einflussnahme auf den Donauraum, das mittlere und östliche Deutschland sowie das vom Deutschen Orden beherrschte Gebiet in Osteuropa sichtbar. Auch Meister Bertram von Minden, der bedeutendste Maler um 1400 in Norddeutschland, scheint mit dem Schaffen Theoderichs in Berührung gekommen zu sein, wie sein Grabower Altar (1379-83) für Sankt Petri in Hamburg beweist.
 
An Zeugnissen der Tafelmalerei westlich des Rheins ist nur wenig überkommen. In Ypern war Melchior Broederlam tätig, dessen Flügelgemälde des »Kreuzigungsaltars« vor 1399 entstanden. Es gibt jedoch zahlreiche Werke von höchstem Niveau, in denen Auswirkungen der französischen Hofmalerei fassbar sind, etwa das »Wilton-Diptychon« oder der Wildunger Altar des in Dortmund nachweisbaren Konrad von Soest. Eine Nähe zu Letzterem verraten die meist kleinformatigen Tafeln des Meisters der heiligen Veronika in Köln, von dem man annimmt, dass er seine Schulung im Umkreis der Brüder von Limburg erfahren hat.
 
Eine Vielzahl qualitätvoller Kunstdenkmäler hat sich am Mittelrhein erhalten: neben bedeutenden gemalten Altarwerken - von jenen in der Wallfahrtskirche in Schotten bis hin zum Ortenberger Altar - auch bildhauerische Arbeiten von besonderem Rang. Wegen ihrer Feinheit in der Formgebung ragen die Steinbildwerke hervor, die um 1425 im Zusammenhang mit Werken des Frankfurter Baumeisters Madern Gerthener entstanden sind (Memorienpforte im Mainzer Dom, Bogenfeld des Südportals der Liebfrauenkirche in Frankfurt am Main). Wohl hauptsächlich für adlige Auftraggeber arbeiteten Werkstätten, die man in Mainz lokalisieren kann und die sich auf Terrakottabildwerke spezialisiert hatten. Gerade das Œuvre des Meisters der Lorcher Kreuztragung verdeutlicht, wie sehr der Werkstoff Ton die spontane Umsetzung von Naturbeobachtung begünstigte. Wie im Falle der kleinformatigen »Dernbacher Beweinung Christi« liegt den Darstellungen dieses Ateliers zumeist ein »andachtsbildhafter«, die vertiefende Betrachtung herausfordernder Stimmungsgehalt zugrunde.
 
Aus Umbrien stammte der in Venedig, Florenz und Rom tätige Gentile da Fabriano, einer der Hauptvertreter der höfischen Stilrichtung um 1400 in Italien. In Werken wie der »Anbetung der Heiligen Drei Könige« (1423), die in der Kostbarkeit der Farbwirkung und kostümlichen Detailschilderung kaum zu überbieten ist, klingt hier die Gotik an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter aus. Doch selbst ein Wegbereiter der Renaissance wie Lorenzo Ghiberti war in seinen Anfängen noch dem »schönen Stil« verhaftet. Dies belegt sein Relief mit der Darstellung des Isaakopfers, mit dem er 1401 den Wettbewerb um die Vergabe des Auftrags für die zweite Bronzetür des Baptisteriums in Florenz zu seinen Gunsten zu entscheiden vermochte. Trotz gewandelter Anschauung und der Auseinandersetzung mit neuen Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks, unter anderem mit dem Reliefstil Donatellos, bewahrte Ghiberti selbst noch in der 1425 begonnenen dritten Baptisteriumstür, der »Paradiestür«, sowohl in der eleganten Linienführung als auch in der lyrischen Grundstimmung entscheidende Wesenszüge des »schönen Stils« - eines der zahlreichen Beispiele für die fortwirkende Bedeutung jener Epoche.
 
Prof. Dr. Hartmut Krohm
 
 
Ausklang des Mittelalters, 1380—1500, Beiträge von Roland Recht und Albert Châtelet. Aus dem Französischen. München 1989.
 
Die Parler und der Schöne Stil 1350—1400. Europäische Kunst unter den Luxemburgern. Ein Handbuch zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der Kunsthalle Köln, herausgegeben von Anton Legner. 6 Teile. Köln 1978—80.

Universal-Lexikon. 2012.

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